Radfahrer:innen und Lkw
Ein Gastartikel über die Begegnung von Rad und Lkw im Straßenverkehr mit der These, dass defensives Fahren unter anderem auf Grund der Schleppkurve tödlich sein kann.
Defensives Fahren kann tödlich sein
Leider gehören Überschriften wie diese schon fast zum Alltag: „Lkw-Fahrer überrollt Radlerin in Treptow“ oder „Radfahrerin von Sattelzug erfasst und schwer verletzt“. Wann immer ich solche Meldungen auf Facebook oder anderen sozialen Medien sehe, bemerke ich viele Kommentare dieser Art: „Kein Wunder! Die Radfahrer fahren auch ständig bei Rot! Die können doch einfach warten!“ Besonders gehässige Zeitgenoss:innen kommentieren Todesnachrichten sogar mit lachenden Smileys.
Augenscheinlich meinen viele Leute, dass die getöteten Radfahrer:innen den Lkws den Weg abgeschnitten und sich damit leichtsinnig in Gefahr gebracht haben. Dass die Opfer zumindest zu einem guten Teil Mitschuld trügen. Dass mit etwas defensiver Fahrweise und kluger Rücksicht alle diese Unfälle vermeidbar seien.
Doch Leute, die so kommentieren, verkennen das Problem extrem. Denn das Gegenteil ist der Fall: Denn gerade die Radler:innen, die sich nicht an bestimmte Verkehrsregeln halten, die bei Rot fahren oder die sich mitten auf die Straße stellen statt einen Radweg zu nutzen, sind vor solchen Unfällen ziemlich geschützt. Die regelgerechten und wartenden Radler:innen jedoch nicht. Ich versuche es hier einmal zu erklären.
Stellt euch vor, ihr steht mit eurem Fahrrad auf dem Radweg an einer Kreuzung. Die Ampel ist rot, neben steht ein Lkw. Vielleicht seid ihr auf dem Radweg neben dem Lkw gefahren. Vielleicht kam er aber auch erst später und hat sich neben euch gestellt. Egal. Die Ampel springt auf Grün.
Ihr wollt losfahren, bemerkt aber plötzlich, dass die/der Lkw-Fahrer:in euch nicht gesehen hat und einfach abbiegt. Ihr seid erst überrascht, verärgert, bleibt stehen — und dann geht es plötzlich sehr schnell. Denn während das Führerhaus in der Straße nach rechts abbiegt, schwenkt der Auflieger hinter euch ein. Auf Arm- oder Schulterhöhe berührt euch der Lkw erst und stößt euch dann um.
Grund ist die sogenannte Schleppkurve. Weil Lkws sehr lang sind und mehr Achsen haben, unterscheidet sich ihre Fahrphysik deutlich von einem normalen Pkw. Während das Führerhaus bei Kreuzungen einen großen Kreis fahren muss, fahren die Hinterräder einen deutlich kleineren Radius. Sprich: Auch wenn das Führerhaus mit deutlichem Abstand an euch vorbeigefahren ist, kann euch der Anhänger überfahren.
Stellt euch weiter vor, ihr liegt nun weitgehend bewegungsunfähig unter dem Lkw auf der Straße. Vielleicht habt Ihr euch die Schulter gebrochen, vielleicht habt ihr durch den Aufprall eine schwere Kopfverletzung. Das Rad zwischen euren Beinen hindert euch daran, schnell wegzulaufen. Wenn die/der Lkw-Fahrer:in nicht bemerkt, was gerade passiert, wird es richtig schlimm. Denn die Hinterräder überrollen die/den Radfahrer:in samt Rad.
Die Überlebenschancen sind an diesem Punkt nur noch gering. Kein Helm kann helfen. Und das neue Verkehrsopfer hat genau das getan, was andauernd als mögliche Lösung präsentiert wird: Einfach neben dem Lkw warten, wenn der sich die Vorfahrt nimmt.
Natürlich läuft nicht jeder Unfall genau so ab. Etwas ganz ähnliches ist aber mir schon im Kölner Straßenverkehr passiert. Ein rechtsabbiegender Lkw nahm einfach Radfahrer:innen die Vorfahrt — der Radweg war voll, kein Missverständnis wegen eines toten Winkels war möglich. Sie/er wollte einfach nicht warten und fuhr ohne Rücksicht los.
Wir Radfahrer:innen kamen schnell zum Stehen. Und dann plötzlich kam der Aufleger rapide auf uns zu, erst einen, dann zwei Meter. Er hätte die Radfahrer:innen vor mir, die nicht einfach zurückweichen konnten fast erwischt. Ich glaube, ich habe nie in meinem Leben so laut geschrien. Der Lkw hielt gerade noch rechtzeitig an.
Blickkontakt und toter Winkel
Auch Radfahrer:innen kommentieren solche Unfälle immer wieder mit Appellen, dass Menschen auf dem Rad defensiv fahren sollten, dass sie mehr Rücksicht auf Lkws nehmen sollten, weil diese ja im ‚toten Winkel‘ nichts sehen könnten. Ein üblicher Ratschlag an Radfahrer:innen lautet: „Also auch bei Grün lieber mal vor der Ampel warten“.
Im Stadtverkehr sind solche Ratschläge zum einen unrealistisch. Hier gibt es meist nicht die eine Person auf dem Rad oder den einen Lkw sondern fließenden Verkehr mit Dutzenden Menschen darin, die alle aufeinander achtgeben müssen. Wer aus verständlicher Angst einfach mal stehenbleibt, versperrt den Weg für andere Verkehrsteilnehmer:innen, was wieder zu neuen Gefährdungen führt. Als im Jahr 2021 eine Radfahrerin am Kölner Friesenplatz überrollt und getötet wurde, war sie nach Berichten sehr defensiv unterwegs. Sie kreuzte erst dann, als sie sah, dass der Lkw für zwei andere Radfahrer:innen stoppte, den Radweg also gesehen hatte. Dass der Lkw plötzlich anfahren würde, konnte sie schlichtweg nicht ahnen.
Zum anderen: Auch das Stoppen hilft nicht unbedingt. Denn Radfahrer:innen kontrollieren nicht ob ein Lkw neben ihnen hält. Und je nach Kreuzung kann die Schleppkurve auch einen Menschen auf dem Rad erwischen, der vor der Ampel steht.
Der Tote Winkel besteht nicht mehr
Viele verweisen auf den toten Winkel — doch den darf es laut Gesetz eigentlich schon lange nicht mehr geben. Ganze sechs Rückspiegel sind gesetzlich vorgeschrieben, die den Lkw-Fahrer:innen vollen Blick auf jeden Winkel bieten müssen. Was hingegen durch die Rückspiegel nicht möglich ist: Radfahrer:innen können keinen Blickkontakt mit den Menschen am Steuer von Lkws aufbauen, um zu kommunizieren oder sicherzugehen, dass man selbst gesehen wird.
Natürlich wäre es töricht, die Beschränkungen nicht realistisch einzuschätzen. Wenn ein/e Lkw-Fahrer:in sechs verschiedene Rückspiegel zu kontrollieren hat, benötigt das Zeit. Und wenn sie/er dazu noch den Verkehr von links im Auge haben muss, ist es für sie/ihn nicht möglich alle Wege gleichzeitig im Blick zu halten. Und genau deshalb ist ein wartender Mensch auf dem Fahrrad ein zusätzliches Risiko.
Stellt euch die Situation an der Kreuzung nochmal vor. Diesmal seid ihr aber am Steuer des Lkws. Und ihr gehört nicht zu der Sorte, die anderen Leuten die mutwillig und gewohnheitsmäßig die Vorfahrt nehmen. Ein/e Fahrer:in, die/der nicht übermüdet ist. Ihr blickt also in die Rückspiegel rechts und seht dort einen Menschen auf dem Rad, der eindeutig Vorfahrt hat. Alles klar, ihr müsst also ein paar Sekunden warten. Nun kontrolliert ihr den entgegenkommenden Verkehr. Weil sich dort eine Lücke auftut, kontrolliert ihr nochmal die Rückspiegel rechts: Da ist ja schon wieder jemand auf dem Rad. Also könnt ihr immer noch nicht losfahren. Wieder ein Blick nach links. Bis tatsächlich klar ist, dass die/der Radfahrer:in euch die Vorfahrt überlassen will, ist für beide schon wieder rot. Oder beide entscheiden sich gleichzeitig, die scheinbar angebotene Vorfahrt anzunehmen. Und dann passiert genau das, was wir oben schon durchgespielt haben.
Menschen auf dem Rad nach vorne!
Was können Radfahrer:innen also tun? Nun – es hängt doch sehr von den Gegebenheiten ab. Wenn ich zum Beispiel vom Kalscheurer Weiher zurück in die Stadt will, muss ich am Militärring eine Kreuzung überqueren, wo es keinen Radweg gibt — aber reichlich Lkw-Verkehr. Hier stelle ich mich möglichst mittig auf. Wenn sich ein Lkw sich neben mich stellen wollte, könnte er das nicht tun. Leider ist dies nicht bei allen Kreuzungen so. Oft werden Radfahrer:innen mit Schutzstreifen oder nutzungspflichtigen Radwegen genau in die Gefahrenzone gezwungen.
Die konsequente Lösung heißt: Menschen auf dem Rad gehören nach vorne. Denn hier gibt es keinen toten Winkel. Man kann sie schlichtweg nicht übersehen. Das haben mittlerweile auch die Verkehrsplaner:innen in Köln eingesehen und bauen immer mehr von diesen Haltezonen exklusiv für Radfahrer:innen vor Ampeln. Dazu gehört an großen Kreuzungen auch oft eine eigene Ampel, die Menschen auf dem Rad einen minimalen Vorsprung gibt.
Zwar starten Radler:innen in der Regel eh deutlich schneller als Autos — aber der Vorsprung verhindert, dass die Leute mit Gaspedal noch mitten auf der Kreuzung überholen wollen. Statt eines Vorfahrtsrechts, das den Fahrradfahrer:innen faktisch über die Macht der PS wieder ausgetrieben wird, gibt es für Radfahrer:innen einfach eine echte Vor-Fahrt. Es wäre klasse, wenn es auch anders ginge, aber leider ist es nun mal nicht so.
Falls sich einige nun fragen, was diese Aufstellflächen sollen, wenn die Menschen auf dem Rad eh nicht dort hingelangen können — selbst unsere autobegeisterten Gesetzgeber haben eingesehen, dass Radfahrer nach vorne gehören.
Und deshalb gibt es den Paragraph 5, Absatz 8 der Straßenverkehrsordnung:
(8) Ist ausreichender Raum vorhanden, dürfen Rad Fahrende und Mofa Fahrende die Fahrzeuge, die auf dem rechten Fahrstreifen warten, mit mäßiger Geschwindigkeit und besonderer Vorsicht rechts überholen.
Ich hoffe, der Artikel hilft, einige Missverständnisse auszuräumen und bestenfalls sogar einige gefährliche Situationen zu vermeiden.
Torsten Kleinz
Torsten Kleinz ist freier Journalist aus Köln-Sülz und schreibt normalerweise im Internet und über das Internet.
Grafiken: Marc Taube
Werde ADFC-Mitglied!
Jetzt Mitglied werden und sparen!
Ein Jahr zum Einstiegspreis von 19€.
Unterstütze den ADFC und die Rad-Lobby, werde Mitglied und nutze exklusive Vorteile!
- eine starke Lobby für den Radverkehr
- exklusive deutschlandweite Pannenhilfe
- exklusives Mitgliedermagazin Radwelt
- Verkehrsrechtsschutz-Versicherung
- Beratung zu rechtlichen Fragen
- Vorteile bei vielen Kooperationspartnern
- Kostenlos Parken in der Kölner Radstation
- das Kölner Magazin fahrRAD!
- und vieles mehr
Dein Mitgliedsbeitrag macht den ADFC stark!